… Mitternacht!
Der volle, pausbackige Mond hoch am Himmel über Linglen.
Eletta geht über ihren Hof auf den Pavillon auf dem Grundstück zu.
Das Einzige was sie trägt ist das weiße, ärmellose, seidige Nachthemd, das bis hinunter zu ihren Knöcheln fällt. Sie hat weder Schuhe, noch Morgenmantel angezogen. Wozu auch, es ist Nacht. Niemand außer der Wache, die an der Treppe stand würde sie sehen. Und so furchtbar, dass sie sich verdecken musste, sah sie nicht aus.
Mit langsamen Schritten nähert sie sich den Holzstufen. Und obwohl sie erwartet hatte dass es kalt war, ist die Nacht lau – es ist fast zu warm für eine Nacht um diese Jahreszeit denkt sie. Die Nacht lud ein, in den Himmel zu sehen, den Mond und seine folgsamen Begleiter zu betrachten und nachzudenken.
Nachdenken, das war in den letzten Wochen irgendwie schleichend zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden. Selten tat sie in der Nacht ein Auge zu und es wurde immer schwerer am Tag die Augen offen zu halten. Meistens konnte sie es überspielen oder sogar ignorieren, dass ihr die Müdigkeit ständig in den Knochen saß. Wie eine Raubkatze jedoch lauerte sie hinter einem nicht bedachten Blinzeln, das möglicherweise zu lange dauerte. Die Katze wartete nur darauf endlich zu schlagen zu können, doch Eletta hatte nicht vor sich überrumpeln zu lassen. Schlafen könnte sie, wenn sie tot war, das war ihr immer der liebste Gedanke gewesen als sie in Bree gelebt hatte und dort im Pony die Verrückten, Betrunkenen und Einsamen beobachtet hatte. Wie eine Ewigkeit kam ihr diese Zeit vor, doch es war nicht mal ein Jahr her.
Dort, als sie beobachtet hatte, hatte sie Kelryt gefunden. Er hatte sie entdeckt als sie den warmen Met von Butterblume gierig getrunken hatte. Fast war es ihr, als könnte sie ihn auf der Zunge schmecken. Was für eine wunderbare Gabe doch die Erinnerungen waren die sie an die Zeit hatte, bevor ihr Leben irgendwie geregelt und doch so kompliziert wurde.
Kelryt… an ihn dachte sie in den Nächten meistens.
Seit er in seinen Ruhestand gegangen war und sich das Stück Land in der Nähe ihrer Eltern gekauft hatte, war so viel Zeit vergangen.
Wie lange hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen?
Wie lange hatte sie seinen rauen und doch so ruhigen Atem in der Nacht schon nicht mehr neben sich gehört? Er hatte ihr immer beim Einschlafen geholfen.
Wie lange hatte er seine großen, kräftigen, derben Hände schon nicht mehr auf sich gespürt? In ihrem Gesicht, wir er ihre Wangen entlang fuhr, sie im Nacken hielt oder er vorsichtig über ihren wachsenden Bauch strich. Er hatte dabei immer ehrfürchtig ausgesehen. Fast so als wäre seine Frau zu zerbrechlich. Manchmal hatten seine rauen Hände ihren Bauch eingeölt.
Wie oft hatte er zuerst leichte und dann immer fordernder Küsse auf ihm verteilt? Die Küsse waren nicht auf dem Bauch geblieben… doch auch das Bett hatten sie eine halbe Ewigkeit nicht mehr geteilt.
Ganz abgesehen von den Streitereien, die er stets haushoch überlegen gewonnen hatte, weil sie ihr Temperament nicht zügeln konnte und immer wütend wurde, wo er immer ruhiger wurde. Eletta vermisste ihren Mann, mehr als alles andere auf der Welt.
Doch immer wenn sie fragte, wann er in die Siedlung zurückkommen würde, hatte er die gleichen und doch verschiedenen Antworten.
Die Stuten könnten fohlen, der Hengst lässt sich vom Burschen nicht striegeln… der Stall braucht ein neues Dach, in der Hütte zieht es, … die Koppel … das Heu muss dies und das…
Sie kannte sie alle und sie hatte es aufgeben nachzufragen.
Ganz am Anfang hatte er ihr gesagt, dass er die Pferde brauchte, eine Aufgabe die ihm im Herzen und im Körper gut tat und sie hatte verstanden.
Er hatte gesagt ein Rohirrim und sein Pferd gehören einfach zusammen, auch das hatte sie verstanden.
Eletta verstand ihn, er brauchte die Pferde, wie sie eine Arbeit brauchte, die die sie hatte erfüllte sie mit stolz, wenn ihr etwas gelang.
Ein Rohirrim braucht Pferde, wie eine Ehefrau ihren Mann, doch sie konnte nicht aus der Siedlung gehen und schon gar nicht konnte sie jeden Tag von der Hütte, in der Kelryt die Nächte verbrachte, jeden Tag in die Siedlung reiten. Sie hätte es getan, aber das Kind und die Verantwortung hinderte sie daran.
Und wenn sie ehrlich war, war das Reiten an manchen Tagen genau so anstrengend und noch anstrengender, als langes Gehen oder sich nach den dicken Wälzern in den Bücherregalen zu bücken. So ließ sie ihren Mann bei seinen Pferden wo er zufrieden war und schwieg.
Vielleicht würde er kommen, wenn ihr Kind da war.
Vielleicht würde er dann für eine Weile bleiben.
Vielleicht würde er sie dann wieder so ansehen, als sei sie ein wertvollen Geschöpf und nicht nur seine übellaunige Ehefrau, die ihn nach Hause holen wollte, wo er doch sein zu Hause gefunden hatte.
In Nächten wie diesen – in denen sie keine Ruhe und erst Recht keinen Schlaf fand – ließ Eletta den Blick über die Siedlung streifen.
Sie dachte an das Fürstenpaar, weit weg und das Stück Land in der Nähe, das ihr und ihrem Mann gehörte. Insgeheim hoffte sie, irgendwann einmal dorthin zu reisen. Nicht für immer – auf keinen Fall, aber ein paar Wochen, zusammen mit Kelryt und ihren Kindern. Doch keinen Atemzug später wusste sie, dass Kelryt niemals mit ihr reisen würde… Er würde seine Pferde nie allein lassen. Und dann war ihr klar, dass auch sie das Breeland nicht würde verlassen können. Nicht ohne Kelryt.
Sie dachte an Mienath und Geldromir, die bald ihr Kind schreien hören würden. Mienath war ihr in den letzten Wochen eine gute Freundin geworden. Die einzige, die sie in ihrem Leben bisher wirklich an sich er heran gelassen hatte. Außerdem war sie eine großartige Stütze… für alles. Vielleicht sollte sie ihr irgendwann von ihren nächtlichen Gedanken erzählen, aber erst wenn das Kind da war, besser noch beide… damit sie gemütlich draußen sitzen konnten, ohne einen Bauch im Weg zu haben, wenn sie sich umarmen wollten.
Sie dachte an die Silberdorns. So ganz wurde sie nicht schlau aus ihnen, aber dennoch waren sie ihr sympathisch.
Außerdem dachte sie an Arille. Sie war hart für eine Frau, aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Eletta selber. Aber sie konnte wesentlich besser ein Schwert führen und kannte sich mit dem Dienst der Wachen aus.
Auch an die Wachen dachte Eletta. Nicht an einzelne, eher im Gesamten. Vielleicht sollte sie sich ihnen ab und an erkenntlich zeigen. Sie wusste, dass sie für ihr Leben verantwortlich waren. Für das Leben jedes Mannes, jedes Kindes und jeder Frau hier in der Siedlung.
Und dann huschten ihre Gedanken wieder zu Kelryt, wie sicher hatte sie sich gefühlt mit dem Feldwaibel an ihrer Seite… nun musste eine Wache… oder ein Rekrut – sie konnte es sich nie merken – vor ihrem Haus die Beine in den Bauch stehen.
Armer Mann, später würde sie ihm einen Tee bringen… ein paar Mal hatte sie es schon gemacht. Einen Tee und ein wenig Gebäck. Zuerst hatte die Wache immer Abgelehnt, doch Eletta hatte nur genickt und es auf den Stufen stehen lassen. Morgens waren Tee und Kekse fort und sie selber glücklich. Glücklicher zumindest.
Und dann gab es noch Liu, das Mädchen und Fräulein Lukea… Eletta hatte sie direkt ins Herz geschlossen. Doch schon jetzt musste sie sich wieder vom Fräulein trennen, sie war nach Rohan gegangen… irgendwas das mit der Familie zu tun hatte. Vielleicht würde sie wieder kommen, Eletta hoffte es sehr. Wieder schlich sich Kelryt in ihre Gedanken… Rohan… ob er es vermisste? Einmal hatte er ihr gesagt, dass nun hier sein zu Hause sei, aber so recht konnte sie es in der letzten Zeit nicht glauben, er hatte dort eine Frau und eine Tochter gehabt. Nun hatte er sie, aber er war nie da.
Heimlich und fast ein wenig trotzig, wischt sie sich eine Träne von der Wange die aus ihrem Augenwinkel geschlüpft war.
Den Blick über die Siedlung schweifen lassend kann sie nicht mehr an Ort und stelle bleiben. Sie dreht sich zur Wache um und geht langsam die Stufen des Pavillons wieder hinunter, doch sie schlägt nicht den Weg zum Haus ein, stattdessen schlendert sie durch das Meer aus schlafenden Blumen zur Straße. Sie nimmt den Weg zum Marktplatz. Der Mond scheint auf den Weg und die Steine drücken sich an ihre Fußsohlen. Manche schmerzhaft spitz, doch die Meisten fast weich, mit ihren runden Ecken. Eletta geht fast lautlos, währen die Wache, die mit einigem Abstand hinter ihr geht, einen einschläfernden Rhythmus auf dem Pflaster entstehen lässt.
Unten auf dem Platz hält sie sich nach Norden, sie geht über die Brücke über den Fluss für den sie keinen Blick übrig hat. Dann nach Osten und wieder nach Norden bis sie das Tor sehen kann, dass von vier Männern bewacht wird. Seufzend schaut sie eine Weile zum Tor. Sehnsucht nach dem was dahinter liegt macht sich in ihr breit.
Sich umdrehend und an ihrer Wache vorbei gehend, nimmt sie den Weg nach Süden zum Wachhaus. Sie geht nicht zu den Puppen mit dem festen Lederwams, auf die sie so gern eingeschlagen hätte. Sie geht weiter, bis hinauf zum Kontor. Dort lässt sie sich auf die Wiese sinken und starrt das Haus an.
Als sie wieder aufsteht ist der Mond ein ganzes Stück weiter gezogen auf seiner Bahn die er wieder und wieder und wieder nimmt. Nacht für Nacht, Woche um Woche, Jahr für Jahr… Auf ihrem Gesicht liegt ein trauriger Ausdruck. Ihre Augen sind gerötet und auch wenn die Wache sie einen Moment fragend ansieht schüttelt Eletta nur den Kopf.
Hoch erhobenen Hauptes geht sie nach Hause. Ihr Weg führt sie an Silberdorns neuem Haus vorbei… sie schaut einen Moment länger als nötig dorthin. Glück liegt hinter der Tür des Paares und auch Liu sollte dort ihr Glück finden. Glück, von dem Eletta hoffte, dass sie es auch irgendwann wieder spüren würde.
Unter den Bäumen der Kastanienstraße geht sie zügiger, es ist unheimlich dort und ein eisiger Schauer läuft über ihren Rücken.
Mit kalten Füßen und einer Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper betritt sie ihr Haus. Es ist warm dort, die Feuerstelle in der Küche in die sie sich begibt ist noch Heiß, genau wieder das Wasser, mit dem sie der Wache und sich selber einen Tee aufbrüht. Mit einem Teller und beiden Bechern bewaffnet tritt sie wieder aus dem Haus. Schweigend stellt sie einen Becher und den Teller auf dem Absatz der Treppe ab und setzt sich langsam und schwerfällig auf die Stufen. Ohne ein weiteres Wort löst die Wache den Umhang und legt ihn Eletta um die Schultern.
In der Ferne hört man eine Eule.
Bei Sonnenaufgang stehen zwei leere Becher und ein leerer Teller auf den Stufen des Hauses. Der Wachwechsel hatte stattgefunden, als Eletta schon lange wieder im Haupthaus stand und sich mit dem Postverkehr beschäftigte.
6 comments so far
Leave a reply
You must be logged in to post a comment.